Mai 4, 2022

Anspruch auf Schmerzensgeld nach Arbeitsunfall

Anspruch auf Schmerzensgeld nach Arbeitsunfall nahezu ausgeschlossen  

Nach einem Arbeits- oder Wegeunfall besteht für Arbeitnehmer*innen nur selten Anspruch auf Schmerzensgeld gegenüber Arbeitgeber*innen. Erfahren Sie hier, welche Voraussetzungen für den Anspruch auf Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB erfüllt sein müssen, warum Unternehmer*innen im Versicherungsfall nicht haften, wie Unternehmer*innen, aber auch Arbeitnehmer*innen vom Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII profitieren, welche Fälle als Versicherungsfälle gelten, und, warum die vorsätzliche Herbeiführung eines Versicherungsfalls nur bei „doppeltem Vorsatz“ angenommen wird.

Fallbeispiel: Sturz vor dem Seniorenpflegeheim

Eine langjährige Pflegefachkraft stürzt im Dezember 2016 vor Arbeitsbeginn gegen 07:30 Uhr auf dem Weg zum Nebeneingang des Seniorenpflegeheims. Der Weg zum Nebeneingang ist, anders als der zu Haupteingang, nicht beleuchtet und besteht zum Teil aus Kopfsteinpflaster. Der Sturz führt zu einem Knochenbruch, der eine Operation und eine stationäre Behandlung nötig macht. Durch einen verzögerten Heilungsverlauf bleibt die Pflegefachkraft noch bis über den Mai 2017 hinaus in ihrer Bewegungsmöglichkeit eingeschränkt.

Der Unfall wird als Arbeitsunfall und dadurch als Versicherungsfall im Sinne von § 7 SGB VII eingestuft, und die Verunfallte erhält dementsprechend Verletztengeld. Die Pflegefachkraft klagt darüber hinaus auf:

Zahlung von Schmerzensgeld in einer Höhe von mindestens 10.000 Euro

sowie den Ersatz materieller Schäden, genauer, den Differenzbetrag zwischen ihrem Arbeitsentgelt und dem von der Krankenkasse gezahlten Verletztengeld, den Ersatz des Verdienstausfalls ihres Ehemanns, der ihre Aufgaben im Haushalt und in der Kinderbetreuung übernommen und sie zu den Behandlungsterminen gefahren hat, den Ersatz der Beförderungskosten zu diesen Behandlungsterminen und den Ersatz aller weiteren Schäden aus dem Unfall.

Das Arbeitsgericht weist die Klage ab. Das Landesarbeitsgericht München weist die Berufung der Klägerin zurück. Und auch die Revision beim Bundesarbeitsgericht hat keinen Erfolg (Urteil vom 28. November 2019, 8 AZR 35/19).

Schmerzensgeld nach § 253 Abs. 2 BGB

Die Pflegefachkraft aus dem Fallbeispiel fordert unter anderem die Zahlung von Schmerzensgeld. Sie möchte also eine finanzielle Entschädigung für den immateriellen, also nicht nur ihr Vermögen betreffenden Schaden, den sie durch den Sturz auf dem Weg zu Arbeit erlitten hat. Ob ein Anspruch auf Schmerzensgeld besteht, regelt § 253 Abs. 2 BGB. Danach müssen folgende Bedingungen erfüllt sein:

1. Es liegt eine Verletzung des Körpers, der Gesundheit, der Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung und in Ergänzung auf Basis von Art. 2 Abs. 1 GG des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor.

2. Der/die Schädiger*in haftet auch tatsächlich für den Schadensersatz wegen der Verletzung der genannten Rechtsgüter.

Sind beide Bedingungen für den Anspruch auf Schadensersatz erfüllt, haben Geschädigte das Recht auf die Zahlung von Schmerzensgeld. Die Höhe des Schmerzensgelds muss in einem angemessenen Verhältnis zur Art und Dauer der Verletzung stehen und wird meist auf der Basis von Schmerzensgeldtabellen errechnet.

Im Versicherungsfall haften Unternehmer*innen nicht

Im Fall der Pflegefachkraft liegt unstrittig eine Verletzung des Körpers vor. Allerdings scheitert der Anspruch auf Schmerzensgeld an der mangelnden Ersatzpflicht des Schädigers gegenüber der Geschädigten. Handelt es sich bei dem Schaden nämlich um die Folge eines Arbeitsunfalls, greift die gesetzliche Unfallversicherung, die Unternehmer*innen durch ihre Beiträge mittragen. Dadurch verlagert sich der Schadensausgleich aus dem individualrechtlichen in den sozialrechtlichen Bereich. Das bedeutet, dass nach § 104 SGB VII Unternehmer*innen und nach § 105 SGB VII dem Betrieb angehörige Personen im Falle eines Arbeitsunfalls nicht zivilrechtlich für den entstandenen Schaden haften. Das gilt für das Schmerzensgeld genauso wie für in Folge des Unfalls entstehende Heilbehandlungskosten und Vermögensschäden. Denn der Haftungsausschluss nach § 104 SGB VII soll Arbeitgeber*innen und Betriebsangehörige vollständig von der Haftung freistellen.

Vor- und Nachteile des Haftungsausschlusses

Es kann der Eindruck entstehen, dass sich der Haftungsausschluss auf Unternehmer*innen-Seite für Geschädigte vor allem nachteilig auswirkt. Denn die Versicherung wird stets versuchen, die Ersatzzahlungen möglichst gering zu halten. Tatsächlich schützt die gesetzliche Regelung nach § 104 SGB VII aber auch Geschädigte, indem sie den Unternehmer*innen kein Verschulden nachweisen müssen und ein eventuelles Mitverschulden nicht zu einer Minderung der Ersatzzahlungen führt. Beides geht zwangsläufig mit Konflikten mit Arbeitgeber*innen und Kolleg*innen und im schlimmsten Fall einem Prozess einher, was wiederum den Betriebsfrieden und damit ein förderliches Klima am Arbeitsplatz stark beeinträchtigen würde.

Auch Wegeunfall ist Versicherungsfall

Die Pflegefachkraft aus dem Fallbeispiel hat die Meinung vertreten, dass die Beklagte nicht von der Haftung befreit sei, weil es sich bei ihrem Sturz um einen Wegeunfall, also ein Unfall auf dem Weg zur Arbeit nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 4 SGB VII handele. Zwar können die Zivil- und Arbeitsgerichte prüfen, ob es sich um einen Arbeitsunfall oder um einen Wegeunfall handelt. Ob es aber auch ein Versicherungsfall welcher Art auch immer ist, regelt das Sozialgesetzbuch beziehungsweise wird zuvor vom zuständigen Sozialgericht entschieden. Die Entscheidung, dass es sich um einen Wegeunfall handelt, berührt die Einstufung des Schadens als Versicherungsfall also nicht. Darüber hinaus sind ohnehin beide Arten – Arbeits- und Wegeunfall – entschädigungsrechtlich gleichgestellt.

Doppelter Vorsatz für Annahme der vorsätzlichen Herbeiführung erforderlich

Nach § 104 Abs. 1 SGB VII haften Unternehmer*innen gegenüber ihren Beschäftigten nur, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich herbeigeführt haben, kurz: Es ist zu beweisen, dass der Schaden selbst auch gewollt war. Die Pflegefachkraft aus dem Fallbeispiel hat der Beklagten vorgeworfen, das Räumen und Streuen vor dem Nebeneingang des Seniorenpflegeheims versäumt und somit den Schaden vorsätzlich herbeigeführt zu haben. Angenommen, die Pflegeheimleitung hätte tatsächlich versäumt, das Streuen der Wege zu veranlassen, wäre das aber allenfalls als grob fahrlässiges und nicht als vorsätzliches Herbeiführen des Unfalls einzustufen. Ein Verstoß gegen Verkehrssicherungspflichten oder etwa Unfallverhütungsvorschriften indizieren noch keinen Vorsatz (siehe auch Entscheidung des ArbG München vom 11.02.2020, 21 Ca 13730/18) im Hinblick auf den Schaden. Man nimmt an, dass jemand, der vorsätzlich Schutzvorschriften missachtet, keine Schädigung oder einen Arbeitsunfall verursachen will, sondern darauf hofft, dass kein Unfall geschieht. Vorsatz besteht also nur, wenn er nicht nur die Pflichtverletzung, sondern auch die Unfallfolge umfasst. Und für die Annahme eines solchen „doppelten Vorsatzes“ aufseiten der Pflegeheimleitung besteht kein Anlass.

Fazit

In den meisten Fällen ist ein Schmerzensgeldanspruch gegenüber Unternehmer*innen ausgeschlossen, da diesen nur äußerst selten Vorsatz bezüglich des Schadens und nicht nur bezüglich der Pflichtverletzung nachzuweisen ist. Selbst der Verstoß gegen zwingende Verkehrssicherungspflichten beziehungsweise Unfallverhütungsvorschriften ist kein Indiz für den erforderlichen Vorsatz.


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