September 23, 2021

Berufsrisiko Lokführer

Berufsrisiko Lokführer

Jährlich begehen statistisch beinahe konstant mehrere hundert Menschen den sogenannten Schienensuizid in Deutschland. Ein solcher Selbstmord ist für die Angehörigen und Bekannten stets tragisch. Umso schwerer ist es wohl nachzuvollziehen, dass der Lokführer die gebrochenen Hinterbliebenen anschließend für Schäden in Anspruch nehmen will.

Was sagt das BGB zu so einem Fall?

Rechtlich gesehen gelangt man aber wohl zu dem Ergebnis, dass der Lokführer das Gesetz auf seiner Seite hat. Lässt man die emotionalen Aspekte einmal außen vor, dann liegt ein klassischer Schadensersatzanspruch aus unerlaubter Handlung vor. Denn der Suizident verletzt nicht nur sich selbst, sondern auch den Lokführer. Einschlägig ist mithin § 823 Abs. 1 BGB.

Gemäß § 823 Abs. 1 BGB ist schadenersatzpflichtig, wer vorsätzlich oder fahrlässig geschützte Rechtsgüter wie Leben, Körper, Gesundheit oder Rechte eines anderen widerrechtlich verletzt. Der Suizident, der vor den fahrenden Zug springt, versetzt den Lokführer in eine Situation, in der er gegen seinen Willen einen Menschen tötet. Eine solche Erfahrung ist sicher eine Erfahrung, die geeignet ist, Traumata zu verursachen. Die Traumata wiederum führen regelmäßig von langandauernder Arbeits- bis hin zur vollständigen Dienstunfähigkeit und monatelanger Behandlungsbedürftigkeit. Neben den psychischen Schäden (Gesundheitsschäden) ist deshalb auch regelmäßig mit einem messbaren Verdienstausfallschaden zu rechnen. Auch wenn der Suizident nicht daran denkt, so fügt er dem Lokführer diese Schäden rechtswidrig und in aller Regel schuldhaft oder zumindest fahrlässig zu.

Gibt es einen Anspruch gegen den Haftpflichtversicherer?

Ein Direktanspruch gegen den möglichen privaten Haftpflichtversicherer des Verstorbenen nach § 115 VVG besteht grundsätzlich nicht. Die private Haftpflichtversicherung ist keine Pflichtversicherung, deren Sinn neben dem Schutz des Versicherungsnehmers auch der Schutz des Geschädigten ist. Die private Haftpflichtversicherung wäre damit falscher Klagegegner. Eine Klage gegen diese führte daher mangels Begründetheit zur Klageabweisung.

Es ist nichts Ungewöhnliches, dass die Schadensersatzpflicht unmittelbar nach ihrer Entstehung durch den Tod des Ersatzpflichtigen im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf dessen Erben übergeht (§ 1922 BGB). Der Lokführer wendet sich daher richtigerweise zum Zwecke des Schadensersatzes an die Angehörigen.

Fallbeispiel: (OLG Frankfurt am Main mit Beschluss vom 24.06.2020 – 16 U 265/19)

„Im Januar 2013 kollidierte kurz nach Mitternacht ein Güterzug zwischen Geisenheim und Rüdesheim mit einer im Gleisbett stehenden bzw. sich dort bewegenden Person. Der Lokführer bemerkte die Person, als sie ca. 20 m vor dem Triebfahrzeug auftauchte. Obwohl er eine Schnellbremsung einleitete, konnte er nicht verhindern, dass er die Person tödlich erfasste. Der Lokführer war daraufhin knapp zwei Jahre arbeitsunfähig krankgeschrieben. Die Klägerin begehrt von den Erben der verunglückten Person Schadensersatz in Höhe von gut 90.000 € für die an den Lokführer geleisteten Zahlungen (Fortzahlung der Dienstbezüge, Heilbehandlungskosten). Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte auch vor dem OLG keinen Erfolg.“

Die Erben des Verstorbenen haben keinen Schadensersatz für den geltend gemachten wirtschaftlichen Schaden des Lokführers zu leisten. Das Oberlandesgericht führte aus, dass eine Haftung der Erben mangels Verschuldensfähigkeit des Suizidenten ausscheide. Der Verstorbene habe im Zeitpunkt der Schadenszufügung nicht schuldhaft gehandelt. Er habe dem Lokführer den Schaden vielmehr in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit zugefügt (§ 827 BGB). Der Sachverständige ging überzeugend von einem planvollen Suizid aus und führte weiter an, dass der Verstorbene nicht mehr in der Lage gewesen sei, seine Gedanken auf die Auswirkungen seines Tuns, insbesondere für den Lokführer zu richten und seine Entscheidung zu verändern.

Schuldunfähigkeit als Ausweg aus der Haftung

Nicht jeder Suizid wird in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit begangen. Vielmehr muss hier differenziert werden. Ist der Handlungsentschluss zum Selbstmord eine spontane Reaktion auf eine Lebenssituation, mag eine zeitweilige Fähigkeit zur freien Willensbestimmung ausgeschaltet sein. Gegenteiliges könnte man jedoch annehmen, wenn der Selbstmord durchdacht und durch Abschiedsbriefe dokumentiert ist.

Grundsätzlich ist jede Entscheidung aber immer eine Einzelfallentscheidung. Im vorgenannten Fall führt das OLG Frankfurt nämlich aus: „Dass der Verstorbene seine Suizidhandlung bewusst und akribisch geplant habe, spreche nicht für seine Schuldfähigkeit. Der Sachverständige habe insoweit überzeugend dargelegt, dass der Verstorbene zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Ziel - seinen Freitod - gekannt habe. Er habe weder zwischen richtig und falsch unterscheiden noch Alternativen wahrnehmen können.“ (§ 827 BGB)

Im Streitfall liegt es an den vom Lokführer in Anspruch genommenen Angehörigen, zu beweisen, dass der Suizident schuldunfähig war. Die Schuldunfähigkeit kann dann nur noch mit Hilfe eines medizinischen Gutachtens bewiesen werden. Der Sachverständige kann hierbei aber nur noch auf die vorhandenen Patientenunterlagen zurückgreifen.  Die Angelegenheit ist damit rechtlich unsicher.

Haftung aus Billigkeitsgründen

Eine Haftung aus Billigkeitsgründen scheidet in Fällen mangelnder Verschuldensfähigkeit regelmäßig ebenfalls aus. Nach § 829 BGB hat derjenige, der aufgrund von Schuldunfähigkeit einen von ihm verursachten Schaden nach § 823 BGB nicht zu ersetzten braucht, den Schaden insoweit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert. Von § 829 BGB sind insbesondere die Fälle erfasst, in denen aufgrund des Alters schuldunfähige Kinder aus vermögenden Familien andere Personen dauerhaft, oder schwer verletzen. Klaffen die Verhältnisse der Beteiligten nicht auseinander, ist auch kein Schadensersatz zu leisten. Im Fall des Schienensuizids ist die private Haftpflichtversicherung des Suizidenten aber jedenfalls nicht in den Vermögensverhältnissen zu berücksichtigen. Eine Haftung nach § 829 BGB ist deshalb ebenfalls vom Einzelfall abhängig.

Ausweg Erbausschlagung

Der sichere Weg, wenn Ehepartner, Eltern, Kinder oder andere Angehörige des Selbstmörders die finanziellen Folgen und rechtlichen Risiken nicht tragen wollen oder können, ist die Ausschlagung des Erbes (§ 1943 BGB). Häufigster Fall der Erbausschlagung ist die Überschuldung des Erben. Aufgrund der drohenden ungewissen künftigen Verbindlichkeiten gegenüber dem Geschädigten wird der rechtliche Rat in Fällen des Schienensuizids aber ebenfalls lauten, die Ausschlagung des Erbes frist- und formgerecht zu erklären. Regelmäßig ist es aber gar nicht der Lokführer selbst, der die trauernden Angehörigen in Anspruch nimmt, sondern, wie im oben genannten Fall, der Sozialversicherungsträger.

Fazit zum Berufsrisiko für Lokführer

Dass Lokführer nach oben geschilderten Erfahrungen Schadensersatz fordern, ist kein Einzelfall. Regelmäßig scheitert ein Schadensersatzanspruch jedoch an der Schuldfähigkeit des Suizidenten. Das OLG Frankfurt steht mit seinen Ausführungen zur Schuldunfähigkeit beim Schienensuizid nicht allein da.

Das OLG München hat mit Urteil vom 08.08.2018 - 13 U 3421/17 ähnlich entschieden. Die Vorsitzende Richterin hat hier deutlich gemacht, „dass man als Zugführer speziell diesem Berufsrisiko ausgesetzt ist.“ Das ist ein riesiges gesellschaftliches Problem, das leider regelmäßig zu Lasten der Lokführer geht. Das OLG München sieht hier den Gesetzgeber in der Pflicht, sich mit diesem Dilemma auseinanderzusetzen. Ein weiterer Ansatz wäre die Versicherung des Berufsrisikos durch den Arbeitgeber.

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